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Die Forderung des Inhaltes an die Typo­grafie ist, dass der Zweck betont wird, zu dem der Inhalt gedruckt werden soll.
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Buchbesprechung

Neue Befunde aus der Hirnforschung und Theorien zur Funktion des Lesen

Rudolf Paulus Gorbach
20. Dezember 2011
Lesen ist eine komplexe kognitive Leistung, bei der unser Auge als unvoll­kommener Sensor fungiert, der nur einen kleinen Teil der visuellen Infor­ma­tionen scharf erfasst. Wie unser Gehirn trotz dieser Einschränkung die Welt der Buch­staben und Wörter entsch­lüsselt, zeigen neue Erkenntnisse der Hirn­for­schung und Theorien zur Funk­ti­onsweise des Lesens.

Seit dem Symposium der tgm zum Thema »Lesen Erkennen« im Jahr 2000 sind neue Erkenntnisse hinzu­ge­kommen. Wie wir lesen, ist seit dem 19. Jahr­hundert ein Rätsel. Die heutige Hirn­for­schung scheint dem Rätsel näher zu kommen. Der fran­zö­sische Neuro­psy­chologe Stanislas Dehaene hat dazu ein faszi­nie­rendes Buch veröf­fentlicht, von dem ich hier berichte.

Das Auge ist ein relativ unvoll­kommener Sensor. Nur die Fovea (Stelle des schärfsten Sehens), die nur 15 Grad des Gesichts­feldes abdeckt, hat eine sehr hohe Auflösung und ist der einzige Bereich der Netzhaut (Retina), der für das Lesen nützlich ist. Es zeigt sich, dass große Schrift­größen nach­teilig sind, da sie zu viel Platz auf der Netzhaut einnehmen. Außerdem sieht das »Auge« nur einen kleinen Ausschnitt und ist ansonsten »blind«. Im Fenster der Fovea ist die Buch­sta­ben­er­fassung im Deutschen leicht nach rechts verschoben. Bei Lesern des Hebrä­ischen oder Arabischen ist diese Asym­metrie umgekehrt.

Buch­staben können unter­schiedlich aussehen, groß, klein, versal, kursiv, anders, alles kein Problem. Psychologen nennen das »Wahr­neh­mungs­in­varianz«. Vermutlich gibt es unter den Neuronen Buch­staben-Detektoren. Linien, Bögen sind die erste Stufe der Erkennung. Die Worter­kennung wird hier­a­r­chisch in Morphemen, den kleinsten Teilen der Sprache, vermutet. Die Erkennung verwandter Wörter wird angebahnt, man spricht von einem »Bahnungs­effekt«. Grapheme werden zu Silben zusam­men­gesetzt.

Die geschriebene Sprache wird als Neben­produkt der gespro­chenen Sprache angesehen. Beim Lesen wird der Text in der Regel auf einer tieferen Ebene des Gehirns »mitge­sprochen« (Subvo­ka­li­sation). Der erwachsene Leser greift gleich­zeitig auf die gespei­cherten Wörter zu und die Subvo­ka­li­sation ist nicht bewusst. Dies gilt jedoch nicht für neue Wörter, die phono­logisch erfasst werden müssen.

Wenn Schreibweise und Aussprache stark voneinander abweichen, wie im Englischen, dauert die Erfassung zunächst länger. Das Wort muss richtig erkannt werden, damit die richtige Aussprache abge­leitet werden kann, denn 26 Buch­staben reichen dafür nicht aus. Im Italie­nischen gibt es diese Schwie­rig­keiten nicht. Die ersten Schritte der Erkennung klingen einfach: 26 Buch­staben, die aus wenigen Strichen oder Bögen bestehen, 150 Grapheme. Aber der lexi­ka­lische Weg wird kompli­zierter. Verschiedene mentale Lexika werden aufgerufen: Wort, Graphem, seman­tische Infor­ma­tionen, die die Bedeutung des Wortes präzi­sieren, und schließlich die Aussprache werden miteinander verknüpft. Dank einer enormen Paral­lel­ver­a­r­beitung geht das alles sehr schnell.

Die Worter­ken­nungszeit bleibt bis zu 7 Buch­staben konstant. Falsch geschriebene Wörter werden in der Regel ignoriert, ohne dass sie ins vordere Bewusstsein gelangen (deshalb übersehen wir wohl auch so leicht Satz­fehler). Diese aktive Deko­dierung wird auch als »Wort­über­le­gen­heits­effekt« bezeichnet.

Mit den bild­ge­benden Verfahren der funk­ti­o­nellen Magne­tre­so­nanz­to­mo­graphie können heute viele Ener­gie­ströme sichtbar gemacht werden, wobei das vorhandene Blut als Kontrast­mittel ausreicht. Dabei zeigte sich, dass die Aktivität beim Lesen bei allen Probanden an fast der gleichen Stelle statt­findet, nämlich im Bereich des Sulcus occi­pitalis. Dies gilt auch für Leser von Hebräisch und Chinesisch. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, in welche Richtung der Text gelesen wird.

Mit Hilfe von Elek­troden wurde fest­ge­stellt, dass Wörter bereits 180 bis 200 Milli­se­kunden nach ihrem Erscheinen auf der Netzhaut vera­r­beitet werden. Das linke und das rechte Auge sind zunächst anatomisch unab­hängig. Innerhalb einiger Dutzend Milli­se­kunden verlagert sich die gesamte Aktivität in die linke Gehirn­hälfte, auch die Wörter, die ursprünglich in der rechten Gehirn­hälfte (linkes Auge) ankamen. Die Signale kommen in der Region der visuellen Wort­formen an. Inter­essant ist auch, dass rechts stehende Wörter schneller vera­r­beitet werden als links stehende.

Eine unter­schwellige Worter­kennung wurde fest­ge­stellt, indem ein Wort nur für 29 Milli­se­kunden präsentiert wurde (das ist weniger als die Dauer eines Film­bildes). Wenn das Wort später wieder erscheint, ist die Erken­nungs­ak­tivität entsprechend reduziert.

Die Umwandlung von Buch­staben in Laute dauert 225 ms. Das Planum temporale, die Ober­fläche des Schlä­fen­lappens, kodiert die Laute der Buch­staben und ist für die gesprochene Sprache sehr wichtig. Die Bedeutung von Wörtern wird in einem klar abge­grenzten Netzwerk bestimmt. Buch­sta­ben­folgen können verschiedene Bedeu­tungen haben, die in der »Konvention« gespeichert sind.

Es stellt sich die Frage, ob man die Wörter immer erst geistig ausge­sprochen haben muss, bevor man sie versteht. Dehaene antwortet: Beide Lesarten exis­tieren neben­einander und konkur­rieren miteinander. Häufige oder unre­gel­mäßige Wörter haben direkten Zugang zu den seman­tischen Arealen des mittleren Temporal­lappens. Seltene, regel­mäßige oder unbe­kannte Wörter erreichen zuerst die audi­to­rischen Areale.

Die Lese-Neuronen reagieren bereits auf buch­sta­be­n­ähnliche Zeichen. Andere Neuronen können hoch­s­pe­zi­a­lisiert sein, beispielsweise nur eine Person erkennen (sog. Groß­mut­ter­neuronen).

Manche Neuronen reagieren nur auf bestimmte Formen. Aus Bildern leitet Dehaene grund­legende Verbin­dungen ab, etwa die T-Form, das F oder das Y. Diese Verbin­dungen können verfeinert werden: Die Neuronen lernen.

Dehaene weist darauf hin, dass unser Gehirn ursprünglich nicht zum Lesen geschaffen wurde. Insofern ist das eine ganz wesentliche kulturelle Leistung. Die entspre­chenden Hirn­re­gionen waren ursprünglich für etwas anderes vorgesehen und wurden erst im Laufe der Evolution mit neuen Aufgaben versehen, man spricht von neuronalem Recycling.

Eine weitere Erkenntnis ist wichtig. Sind die Buch­staben zu weit voneinander entfernt (oder unre­gelmäßig), wird das Lesen schwieriger, weil mehr­deutiger. Ab einem bestimmten Abstand bricht der Lese­vorgang zusammen. Das spricht gegen gesperrten Satz.

Stanislas Dehaene
Lesen
Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert

470 Seiten
Knaus Verlag, München 2010
ISBN 978–3–8135–0383–8
24,95 Euro

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