Event

Wenn Buchstaben tanzen

Hermann Iding

22. November 2023

Und die Typografie bewegt sich doch! Nach fünf Jahren fand wieder der Dynamic Font Day in München statt – »endlich wieder«, möchte man sagen! Von 3D-Fonts über eingebettete Schriftdynamik bis hin zu parametrisierbarer Designsoftware wurden die neuesten Entwicklungen vorgestellt und diskutiert. Und ja: Eine Weltpremiere gab es auch!

Software für kollaboratives Schriftdesign — Fotos: Michael Bundscherer

Philipp Koller aus Berlin stellte nicht nur einen Font vor, sondern feierte gleich mit seiner ganzen kollaborativen Type-Design-Software Weltpremiere. Mit Hilfe eines intuitiv zu bedienenden Glyphen-Editors kann man durch Parametrisierung eine eigene Schrift nach bestehenden typografischen Stilen entwerfen. Wenn man will, bis hin zur freien Manipulation von Punzen. Oder man lässt den Buchstaben Haare wachsen, denn Koller sieht Bugs und Pannen als willkommene Überraschungen, die künftige Entwicklungen inspirieren können.

Die in Berlin ansässige Gestalterin Kimya Gandhi führte in die von ihr entworfene Schrift für das indische Schriftsystem Devanāgarī ein – eine variabler Font in Ergänzung zur FIT von David Jonathan Ross. OpenType, Unicode und das in Indien inzwischen weit verbreitete und verfügbare Internet haben neue Möglichkeiten und Akzeptanz für digitale Schriften geschaffen. Die von ihr entwickelte »Fit Devanagari« wird heute in Indien von jungen Designern verwendet, die Gandhi schreiben, dass sie durch ihren variablen Font nicht nur Spaß, sondern auch Stolz auf ihr eigenes Schriftsystem zurückgewonnen haben. Was will man mehr als Schriftgestalter·in?

Mit dem Übergang von Print zu Screen kommt Bewegung in die Typografie. Raum und Zeit bekommen eine neue Bedeutung und wollen erobert werden. Kein Wunder, dass einerseits fehlende Tools für diese Dynamisierung bemängelt werden und andererseits keine Angst vor künstlicher Intelligenz (KI) im Schriftdesign besteht, da diese in der Typografie bisher nur als smarte Assistenz dient.

Interessant waren die Einblicke in die kreative Werkstatt, die einige Referent·innen boten. Erstaunlich viele Designer beginnen auch bei der digitalen Transformation der Typografie zunächst analog und entwerfen ihre Ausgangsideen von Hand.

Scribo von der Foundry Underware — Fotos: Michael Bundscherer

»Scribo ergo sum«, formulierte das Duo Akiem Helmling und Bas Jacobs von der niederländischen Foundry Underware in leichter Abwandlung des Philosophen René Descartes. Und präsentierten ihren Entwicklungsprozess für die digitale Schriftfamilie Scribo. Diese Schrift beinhaltet nicht nur eine sehr natürlich wirkende Handschrift, sondern auch die Dynamik des Schreibens selbst. Während bisher das Thema »Raum« für die Schriftgestaltung ausführlich behandelt wurde, widmen sie sich nun dem Aspekt der Zeit und wie sich beispielsweise die Schwerkraft auf die Schriftgestaltung auswirkt. Der Font kann kostenlos geladen, ausprobiert und genutzt werden.

Sabina Sieghart über Typografie den Lesevorgang

leichte Sprache, barrierefreiheit und Typografie für Menschen mit Lernschwierigkeiten — Fotos: Michael Bundscherer

Typografie kann (muss?) auch gesellschaftlich verantwortliche Aufgaben übernehmen, wenn sie so gestaltet wird, dass beispielsweise Menschen mit Lernschwierigkeiten leichter lesen und verstehen sollen. Sabina Sieghart stellte eine Studie der Universität Hasselt (Belgien) vor, in der sie erforschte, wie Typografie den Lesevorgang beeinflusst. Insbesondere auch, was Leichte Sprache für digitale Medien bedeutet und welche Implikationen dies für die Gestaltung hat. All das wird wichtiger werden, denn der European Accessibility Act (EAA) verpflichtet unter anderem viele Unternehmen, bis 2025 digital barrierefrei zu sein. Mit ihrem Gestaltungsinstitut berät Sieghard auch zu diesem Thema.

Vincent Wagner auf dem Dynamic Font Day 2023 — Fotos: Michael Bundscherer

Wenn wir Print verlassen, entdecken wir Motion und 3D, zeigte Vincent Wagner mit vielen Beispielen in seinem Vortrag. Der österreichische 3D-Künstler präsentierte seinen Entwicklungsansatz, mit dem er auch für 3D komplette Schriftfonts zu Ende entwickelt und teilweise zum freien Gebrauch als Download anbietet. Dabei verwendet Wagner klassische Motion-Graphic-Tools und nutzt deren digitale Funktionen, um auch in 3D Effekte zu erzeugen, die an den Einsatz klassischer Werkzeuge wie z. B. eines Meißels erinnern. Derzeit sieht er eine steigende Nachfrage nach 3D-Angeboten im Bereich Augmented Reality (AR), da der Zugang über ein Smartphone wesentlich einfacher ist als über die weniger verbreiteten VR-Brillen.

Tina Touli auf dem Dynamic Font Day 2023 — Fotos: Michael Bundscherer

Auch Tina Touli, Creative Director mit eigenem Studio in London, startet gerne im Physischen, bevor sie die Idee ins Digitale transformiert. Mit ihren Arbeiten für Adobe, The New Yorker, Samsung und viele andere ist sie bekannt für die Verschmelzung von Physischem und Digitalem. So nimmt sie zum Beispiel ein Geschenkband und verwandelt es digital in den Buchstaben T (für 36 Days of Type) oder mischt Wasser und Öl, um das schillernde Ergebnis abzufilmen und mit Photoshop und Illustrator weiter zu verfeinern (für Adobe Max). Zur Inspiration sammelt sie viele verschiedene physische Materialien, mit denen sie gerne spielt, um erste Ideen zu entwickeln, bevor sie diese Schritt für Schritt ins Digitale überträgt.

Wie kann man den Satzrhythmus visualisieren, um das Verständnis zu erleichtern? Ann Bessemans von der Universität Hattelt in Belgien stellte nicht nur ihre aktuellen Forschungsergebnisse zu diesem Thema vor, sondern probierte es mit den Konferenzteilnehmern durch interaktive Abstimmungen während ihres Vortrags aus (mit dem Tool von mentimeter). Ziemlich schnell und anschaulich zeigte sich, dass die mit der Schrift verbundenen Emotionen besser verstanden werden können, wenn die Schrift animiert wird. In diesem Sinne kann »kinetic typography« über digitale Geräte das Leseverständnis erleichtern.

Daniel Wenzel, aka computerboy, hat keine Angst vor Künstlicher Intelligenz: »Was zählt, ist die Idee, nicht das Handwerk.« Seiner Meinung nach können KIs bei den Ideen nicht mithalten, für ihn sind sie bisher nur clevere Assistenten. Der Senior Art Director (DIA studio) aus New York zeigte zahlreiche Anwendungen, in denen er mit Hilfe der Programmierung Varianten von Schriftdesigns automatisiert erzeugt. Und ermutigte dazu, die eigene Blase zu verlassen, denn »all tools are accepted«. Wenn das Ergebnis stimmt. Der Computerjunge lässt sich gerne helfen. Dann hat er mehr Zeit für das, was wirklich wichtig ist: die nächste gute Idee.

Vielen Dank an alle Vortragenden, Unterstützenden und Fördernde, Kuratierenden und die vielen Helfer bei der Typographischen Gesellschaft München und der Designschule München für das beeindruckende Engagement – und nicht zuletzt den zahlreichen Teilnehmenden vor Ort und im Online-Stream für die Teilnahme!

Die tgm hat in diesem Jahr wieder zusammen mit der Deutschen Meisterschule für Mode / Designschule München den Dynamic Font Day wach geküsst – am 18. November in der Design-Schule München am Sendlinger Tor. Das inspirierende Programm ist den Kurator·innen Antje Dohmann, Tim Ahrens und Oliver Linke zu verdanken.

Fazit: Es lohnt sich, in Bewegung zu bleiben.

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