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Typographische
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Buchbesprechung

… POGR·AFIEN … OGRA·PHIES

Gerd Fleischmann
15. Januar 2019
Über­wäl­tigend! Als ich den groß­for­matigen Leinenband (245 × 280 mm, 232 Seiten) zum ersten Mal in die Hand nahm und durch die Seiten raste, habe ich mich an die Verlags­an­kün­digung erinnert, in der davon die Rede ist, dass »über 500 Druckwerke vorge­stellt« werden.

Selbst wenn zu einem Werk mehrere Abbil­dungen gezeigt werden, sind es, wenn ich richtig gezählt habe, fast 1000. Aber ein »Druckwerk« wie UdSSR periodica 1932 von Salomon Telingater (1903–1969) und Ivan Fiodo­rovich Rerberg (1892–1957) mit sechs Abbil­dungen (Umschlag und Doppel­seiten, S. 190) zeigt in diesen Abbil­dungen sechs verschiedene typo­gra­fische Lösungen oder Figuren.

Aber auch die einzelnen Karten im Katalog der Muster von Herbert Bayer, 1927, S. 45, sind nicht einfach Varia­tionen eines Layouts. Jedes der 13 abge­bildeten Einla­ge­blätter zeigt eine eigen­ständige Lösung. Verwirrend ist nur, dass gleich große Blätter in vier verschiedenen Größen abge­bildet sind.

Aber es stimmt ja auch sonst nicht alles. Zum Glück. Als die Druck­sa­chen­­ge­staltung mit den Futu­risten und Dadaisten erst aus den Fugen geraten war und die Konstruk­ti­visten ihr dann Korsett­stangen einzogen, gab es noch kein »Grafik-Design«. Es waren Künstler, die Druck­sachen gestalteten und mit der Foto­grafie zu expe­ri­men­tieren begannen. Nur zwei der Prot­ago­nisten der Neuen Typo­graphie hatten das Handwerk von der Pike auf gelernt: Philipp Albinus in Frankfurt am Main und Wilhelm Lesemann in Bielefeld. Und dann geschah es nicht nur in Deut­schland, wie der Untertitel suggeriert und der Inhalt (zum Glück) nicht bestätigt. Jan Tschichold hat alles verstanden und durch­schaut, aber selbst nie in der Satzgasse oder am Tiegel gear­beitet.

»Bauhaus & mehr« suggeriert Entwick­lungs­linien. Aber die Bilder vermitteln das nicht. Wer hat was wann bei wem gesehen? Sie machen auch nicht deutlich, wovon sich die Neue Typo­graphie abgrenzen wollte. Oder wie ein Plakat der Neuen Typo­graphie neben anderen auf einer Litfaßsäule wirkt.

Patrick Rössler behandelt das Thema in vier Gruppen mit insgesamt 11 Kapiteln: Inno­vation, Diffusion, Medien und Epilog. Warum das Buch in Deutsch und Englisch mit Wende­schutz­um­schlag sein muss, verstehe ich nicht. Die Bild­le­genden sind nur in Deutsch. Leser, die kein Deutsch verstehen, können das Gedruckte nur als Bilder aufnehmen. Der Gestalter hätte nur lesen müssen, was Herbert Bayer auf seiner VdR-Karte sagt (S. 35): »immer das wesentliche einer aufgabe muß erforscht und erkannt werden, dann wird die äußere erscheinung […] das logische mittel sein zum zweck«. Das gilt auch für Bücher.

In der »Gebrauchs­an­weisung« vor dem Inhalts­ver­zeichnis wird das Buch als »Über­blickswerk« charak­te­risiert, »das eher bestehende Erkenntnisse zusam­menfasst und bündelt denn eigene Forschungen präsentiert; es dominiert nicht die detail­ver­liebte Analyse, sondern der kurso­rische Blick auf die Vielfalt an Posi­tionen einer lebendigen Epoche, die auch mit der Gleich­schaltung unter dem nati­o­nal­so­zi­a­lis­tischen Regime nicht zu Ende ging«. Er zeigt mit einer bisher nicht gesehenen Fülle von Beispielen die Entwicklung der Typo­grafie von den Anfängen der Neuen Typo­graphie um 1920 bis zum arri­vierten Grafik-Design am Ende des letzten Jahr­hunderts mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin, (etwa Alex Katz, 1999).

Die Abbil­dungen scheinen aus unter­schied­lichen Quellen zu stammen. Einige sind figürlich frei­ge­stellt, andere sind bei gleichem Objekt und gleicher Größe streng recht­winklig ange­schnitten, alle ohne Körper­schatten. Die Repro­duk­tionen weisen auch Gebrauchsspuren auf. Eine Abbildung ist allerdings völlig daneben: ein einziger grau gedruckter 50.000.000 (Fünf­zig­mil­lionen) Mark Notgeld­schein von Herbert Bayer auf Seite 35, datiert 9. August 1923, in der program­ma­tischen Form eines Doppel­quadrats 14 × 7 cm. Das Projekt »Notgeld des Landes Thüringen« hätte eine ganze Seite verdient, war es doch der erste Auftrag für ein indus­triell gefer­tigtes Produkt nach einem Entwurf des Bauhauses, lange bevor Bayers Typo­grafie die Druck­sachen des Bauhauses domi­nierte. Alle sechs oder acht Nennwerte und möglichst viele Serien und Farb­va­rianten hätten die Intel­ligenz des Entwurfs zeigen können. Mit einer geschätzten Gesamt­auflage von bis zu 5 Millionen waren diese Scheine die mit Abstand am weitesten verbreiteten Druck­sachen des Bauhauses und der Neuen Typo­graphie – das Bauhaus in der Hosen­tasche. Doch die galop­pierende Inflation und die Armut verstellten den Nutzern den Blick auf die epochale Gestaltung. Am Ende taugten die Papiere gerade noch zum Feuer­an­zünden. Heute würde man den Entwurf als Meta-Design bezeichnen, da nicht mehr das einzelne Objekt gestaltet wurde, sondern eine Vorlage für eine beliebig erweiterbare Serie, die dann von anderen, in diesem Fall Setzern, realisiert werden konnte und auch realisiert wurde. Das war ein ganz anderer Ansatz als bei den »künst­lerisch gestalteten« Notgeld­scheinen.

Das Buch ist voller Wider­sprüche. Wenn man aber das Titelblatt der Zeit­schrift Deko­rations- und Rekla­mekunst (Offi­zielles Organ der DuR-Verei­nigung zur Förderung der Schau­fenster-Deko­ra­ti­onskunst und Reklame e. V.) vom Mai 1927 sieht, das Sonderheft werbwart weiden­müller mit dem »geschnitzten« Titel eines/einer unbe­kannten Gestalters/in mit expres­sio­nistisch anmu­tenden Lettern und Formen (Seite 21), dann sind alle Bedenken wie wegge­blasen und man möchte anfangen zu blättern und zu lesen. Aber Angaben, wo sich dieses seltene Heft befindet, in welcher Bibliothek oder Sammlung, oder wie groß es ist, sucht man vergeblich.

Das Thema Gebäu­de­be­schriftung fehlt völlig: B-A-U-H-A-U-S (in Groß­buch­staben von oben nach unten) am Werk­statt­flügel des bauhaus dessau – das meist foto­gra­fierte bauhaus-Motiv, HAUS DES VOLKES in Probstzella (Alfred Arndt), die beleuchtete Außen­reklame und die beleuchteten Halte­stel­len­schilder von Walter Dexel im Rahmen des Neuen Frankfurt oder CAFÉ EUROPA (in Groß­buch­staben) in Bielefeld.

Moholy-Nagy forderte 1923 in seinem Aufsatz mit dem gleichen Titel von der Neuen Typo­graphie: »Also vor allem: klare Klarheit in allen typo­gra­phischen Arbeiten. Die Lesbarkeit – die Botschaft – darf nie unter einer a priori ange­nommenen Ästhetik leiden. Die Buch­staben dürfen nie in eine vorge­gebene Form, z.B. ein Quadrat, gezwängt werden.« Diesem Grundsatz wider­spricht das Buch nicht nur mit den an Bauklötze erin­nernden Titel­treppen. Auch der gesamte Satz, wie die Buch­ty­po­grafie damals genannt wurde, schafft es mit seinen will­kürlich vari­ie­renden Bild­größen nicht, eine »klare Botschaft in eindring­lichster Form« zu sein.

Trotzdem: Das Buch lädt ein zu einer faszi­nie­renden Entde­ckungsreise.

Ein Muss für Sammler, Händler und Gestalter – auch wenn Breuer, Brüning, Fleischmann, Heller, Holstein, Rade­macher, Rattemeyer/Helms schon im Regal stehen.

Das Buch erscheint begleitend zur Ausstellung »Das Bauhaus wirbt. Neue Typo­grafie und funk­ti­onales Grafik-Design in der Weimarer Republik«, 1. März bis 12. Mai 2019 im KunstForum Gotha.

Patrick Rössler
Neue Typo­grafien.
Bauhaus & mehr: 100 Jahre funk­ti­onales Grafik­design in Deut­schland
New Typo­graphies Bauhaus & Beyond: 100 years of func­tional Graphic Design in Germany.
Ein Bildband über die Revo­lution der Buch- und Rekla­me­ge­staltung zum Bauhaus-Jubiläum 2019.
232 Seiten
Wallstein Verlag, Göttingen: 2018
ISBN 978–3–8353–3367–3
38 Euro